Wir sind so gut wie möglich vorbereitet
29.03.2022 Affoltern i.E., Jegenstorf, Koppigen, Utzenstorf, Foto, Burgdorf, Gesellschaft, AktuellLaut Burgdorfs Stadtpräsident Stefan Berger kümmern sich seit Anfang März 2022 verschiedene Fachstellen in Burgdorf um die Unterbringung von angekündigten Flüchtlingen aus der Ukraine. Die Stadtverwaltung hat eine Taskforce mit Vertretungen aller diesbezüglich involvierten Amtsstellen und Organisationen ins Leben gerufen.
Ansturm bewältigen
Laut Gemeinderätin Charlotte Gübeli, Ressort Soziales, kann Burgdorf den erwarteten Ansturm von 150 Ukraine-Flüchtlingen angemessen bewältigen. «Neben den Previs-Wohnungen am Uferweg stünden zur Not noch die Unterkünfte im Lindenfeld zur Verfügung, in denen von 2014 bis 2015 schon rund 100 Personen untergebracht worden sind. Da es sich allerdings um unterirdische Räume handelt und jetzt mehrheitlich Mütter mit Kindern und allein reisende Frauen erwartet werden, sind normale Wohnungen vorzuziehen.»
Charlotte Gübeli betont, dass die Gemeinde aus den teils problematischen Zuständen der damaligen Zeit gelernt habe. «Heute hat der Kanton seine Politik bezüglich Zuteilung von Flüchtlingen geändert und weist gestaffelte, kleinere Kontingente zu. Dadurch erhalten die betreffenden Gemeinden die Gelegenheit, ihre Infrastruktur hochzufahren und entsprechende Vorbereitungen zu treffen. In Burgdorf hat die ORS Service AG die Betreuung der Flüchtlinge übernommen: Die Zusammenarbeit klappt gut, wir haben diesbezüglich jahrelange Erfahrungen.»
Schon mehr als 16 000 Geflüchtete
Seit Anfang März 2022 muss plötzlich alles sehr schnell gehen, nachdem seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 die Flüchtlingsströme aus der Ukraine täglich anschwellen. Plötzlich schnellen die Zahlen der Menschen in die Höhe, die über Deutschland und Österreich in die Schweiz fliehen.
Ende vergangener Woche meldete der Bund rund 16 000 Geflüchtete, von denen rund die Hälfte bereits den S-Status (Schutzbefohlene) hat. Offen ist, wie viele Geflüchtete aus der Ukraine privat untergekommen sind und sich aus zeitlichen Gründen noch nicht bei den Behörden zwecks Aufnahme ihrer Personalien gemeldet haben. Erst dann kommen sie in den Genuss der vom Bund erstmals gewährten Privilegien wie die unbürokratische Aufnahme in der Schweiz, sofortiger Zugang zum Arbeitsmarkt, kostenlose Unterbringung, Krankenkasse und die wöchentliche Auszahlung von Lebensmittelgeld.
Da die kantonalen Anmeldestellen derzeit überlastet sind, ist die formlose Einreise in die Schweiz für alle Menschen aus der Ukraine offiziell gestattet. Sie sollen, wenn möglich, per Internet einen entsprechenden Anmeldetermin vereinbaren.
Leere Wohnungen vorhanden
Die Previs Vorsorge ist Inhaberin der Mehrfamilienblöcke am Uferweg, die gemäss Überbauungsplan nach und nach ab Juli dieses Jahres abgerissen und durch drei Neubauten ersetzt werden sollen. Ein Teil der Wohnungen in den zuerst für den Abriss vorgesehenen Häusern ist bereits geräumt. Als kurzfristig Unterbringungsmöglichkeiten für die vom Kanton zugeteilten Flüchtlinge gesucht wurden, bot Previs 40 leere Wohnungen (relativ kleine Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen) an.
Die früheren Mieter haben die für den Abbruch vorgesehenen Wohnungen «mehr oder weniger besenrein» verlassen, wie Abwart Hans Oppliger sagt. Er habe erst am 15. März 2022 von der Previs-Direktion erfahren, dass er von den leer stehenden Wohnungen umgehend geeignete für eine Zwischennutzung aussuchen soll. Er habe alle infrage kommenden Wohnungen auf ihre Bewohnbarkeit kontrolliert und tropfende Wasserhähnen, verstopfte Siphons oder defekte Toilettenspülungen repariert.
Anschliessend musste ohne grossen finanziellen Aufwand nochmals geputzt werden. Laut Lutz Hahn von ORS, Zentrumsleiter Asyl- und Flüchtlingsbereich Emmental, «haben sich auf einen Aufruf zahlreiche Mitglieder der Pfingstmission Burgdorf gemeldet und in Rekordzeit die 40 Wohnungen unentgeltlich auf Vordermann gebracht».
Borschtsch zur Begrüssung
Als die Schreibende am vergangenen Dienstag nach diversen Passanten endlich eine Dreiergruppe am Uferweg fragt, ob jemand etwas über neu eingezogene Ukrainer wisse, sagt eine der gefragten Personen auf Englisch: «Wir sind Ukrainerinnen. Wir sind gestern hier eingezogen.» Ein in der Nähe wohnender Afghane will die zwei Frauen zum Einkaufen begleiten, weshalb wir uns für den Abend verabreden.
Am Abend begleite ich Alona Shenhalova (1995), die als Einzige der vier Ukrainerinnen in der Drei-Zimmer-Wohnung Englisch spricht, zum ORS-Büro, wo sie Putzeimer und weiteres Putzmaterial abholt. Sie hat mich schon am Nachmittag eingeladen und will mich ihrer Mutter Natalia Shenhalova (1960) sowie den zwei anderen Frauen Viktoriya Kostenko (1965) und Tetiana Soloviova (1953) vorstellen.
Kaum betrete ich die Wohnung, werde ich von allen mir bis dahin völlig unbekannten Frauen in die Arme genommen, geküsst und gedrückt. «Welcome, welcome», sagen alle. Im Raum stehen nur ein Tisch und fünf Stühle. Ehe ich etwas sagen kann, fragt Viktoriya: «Borschtsch?» Ich weiss, dass es sich um ein Nationalgericht handelt, das in Russland sehr populär ist. Offensichtlich auch in der Ukraine. Ich erhalte eine Suppenschüssel Borschtsch, aber «nach ukrainischem Rezept zubereitet». Am Nachmittag hat die von mir angetroffene Dreiergruppe die Zutaten eingekauft. Mir schmeckt Borschtsch mit Fladenbrot ausgezeichnet, alle vier Frauen strahlen.
Wo ein Wille ist ...
Dafür, dass nur eine der vier Frauen und ich Englisch sprechen und die drei anderen Ukrainerinnen ausschliesslich ihre Landessprache, funktioniert die Unterhaltung ausgezeichnet. Alle vier besitzen ein Handy, mit dem sie kostenlos auch mit ihren Liebsten in der Ukraine telefonieren können. Alle haben eine App auf ihrem Handy, mit welcher sie das ukrainisch Gesagte sowohl auf Ukrainisch als auch auf Englisch übersetzt erhalten.
Vorerst geht es um allgemeine Informationen der Geflüchteten, woher sie kommen – drei aus der selben Stadt – und das Kennenlernen mit der vierten aus Odessa im Schweizer Lager, in das sie nach der offiziellen Anmeldung in Bern gebracht worden sind. «Wir sind dankbar für die Aufnahme in der Schweiz und das jetzt ausbezahlte Geld (130 Franken pro Woche und Person)», beteuern alle vier immer wieder.
Aber gewisse Begleitumstände bei der Einreise am 3. März 2022 seien «sehr, sehr unangenehm gewesen», wie das körperliche Abtasten nach Waffen oder Rauschgift, das Abtasten aller Kleider- und Mantelsäume nach Verbotenem, die Wegnahme sämtlicher Dokumente und seit jenem Tag das Fehlen jeglicher Ausweispapiere. «Wie sollen wir gratis Bus oder Zug fahren, wenn wir uns nicht als Ukrainerinnen ausweisen können?» Im Lager hätten elf Personen und einige Katzen in einem Raum geschlafen, «eher inhuman».
Und wieder: «Wir sind sehr dankbar für unsere Aufnahme in der Schweiz; die Mitarbeiter im Lager erfüllen nur ihre Vorschriften. Trotzdem sollten sich die Verantwortlichen überlegen, was eine solche Behandlung bei Geflüchteten auslöst, die gerade den Kriegswirren und der Bombardierung entkommen sind.»
Zudem seien zahlreiche Gegenstände wie Haarföhn, Nagelschere und andere Hygieneartikel ohne Erklärung weggenommen worden. Und natürlich alle Lebensmittel, was vor allem Tetiana hart getroffen habe. «Sie konnte ein grösseres Stück ihres Lieblingskäses auf der Flucht in die Schweiz retten; hier wurde es ohne Erklärung einfach konfisziert.»
Elend der Krimtartaren
Mutter Natalia Shenhalova beschliesst, über das traurige Schicksal ihrer Familie zu berichten. Tochter Alona hat vorher stolz betont, ihre Mutter sei eine echte Krimtatarin. «Das hat während Jahrzehnten nicht unbedingt Vorteile bedeutet», schränkt die Mutter ein. «Meiner Familie hat es eine traurige Vergangenheit beschert. Meine Eltern wurden unter Stalin mit vielen anderen als Krimtataren aus ihren Wohnungen auf der Krim erst nach Usbekistan und dann nach Kasachstan deportiert. Dort wurde Natalia geboren.» Ihre eigene Mutter wurde als Siebenjährige in ein isoliertes Lager in der usbekischen Steppe verschleppt. Ihr Vater hat schliesslich beim Bau einer Ölraffinerie mitgearbeitet.
Später ist die Familie auf die Krim zurückgekehrt. Als Russland 2014 die Krim annektiert, verlässt die Familie ihr Haus und zieht nach Kiew, wo Vater und Bruder jetzt kämpfen. «Wir Frauen mussten wieder fliehen. Unser Heim haben wir erneut verloren.»
Nachbargemeinden bereiten sich vor
Übereinstimmend erklären angefragte Auskunftspersonen, dass die Platzierung von Ukraine-Flüchtlingen nicht planbar sei. Die Zahlen variieren täglich, wobei mit einem Anstieg zu rechnen sei. Dann müsse man unbürokratisch und schnell handeln.
Jegenstorf
Laut Richard Holzäpfel, Gemeindeschreiber von Jegenstorf, ist bisher kein kantonaler Aufruf zur Unterbringung von Ukraine-Flüchtlingen eingegangen. Ihm ist allerdings bekannt, dass Private bereits Flüchtlinge aufgenommen haben. Das 2014 als provisorisches Durchgangszentrum für Geflüchtete genutzte Gebäude ist inzwischen teilweise abgebrochen worden. Weiterer Wohnraum steht derzeit nicht zur Verfügung.
Holzäpfel verweist auf das «gute private Hilfsnetz», in das Kirche, öffentliche Hand und eben Private eingebunden sind und so Hilfe leisten. «Wir leiten Hilfsangebote an kantonale Stellen weiter. Falls Flüchtlinge kommen, sind Kindergärten und Schulen vorbereitet.»
Affoltern i. E.
Gemeindeschreiber Jahn Flückiger bestätigt, dass «auch Affoltern wie andere Berner Gemeinden vom Kanton bzw. dem Regierungsstatthalteramt angefragt wurde, ob Kollektivunterkünfte für Flüchtlinge vorhanden sind. Wir haben das leer stehende Altersheim Beimatt und die Truppenunterkunft gemeldet und warten nun auf weitere Anweisungen. Ukrainer sind bis jetzt nicht zugewiesen worden. Von privaten Aufnahmen ist nichts bekannt.»
Utzenstorf
Gemeinedeschreiber Tobias Schmid erklärt, dass «nach dem kantonalen Aufruf leider keine grössere oberirdische Liegenschaft als Kollektivunterkunft angeboten werden konnte. Wir wissen, dass einige Flüchtlinge private Unterkünfte gefunden haben, aber nicht wie viele und wo.»
Alchenstorf, Koppigen und
Willadingen
Martina Scheidegger, Gemeindeschreiberin von Alchenstorf, betreut als Stellvertretung auch die Gemeinden Koppigen und Willadingen. Alle Gemeinden wurden betreffend Kollektivunterkünften angefragt; in Alchenstorf und Willadingen sind allerdings keine vorhanden.
Anders sieht die Situation in Koppigen aus. Es ist bekannt, dass zwei Familien Flüchtlinge aufgenommen haben. Eine Familie habe sich mit Fragen an die Gemeinde gewandt und die Anmeldung durchlaufen.
Zudem hat kürzlich eine grössere Liegenschaft den Besitzer gewechselt. Der neue Inhaber hat inzwischen beim Kanton die Verwendung als mögliche Kollektivunterkunft angemeldet. 18 Personen könnten hier untergebracht werden.
Ebenfalls als Unterkunft angemeldet sind derzeit ungenutzte Zimmer für Lernende oder Studenten der Gartenbauschule Oeschberg. Auch hier laufen kantonale Abklärungen.
Burgdorf
«Mit der Erklärung der angespannten Lage durch den Regierungsrat am
15. März 2022 wurden auch wir angehalten, allfällige Unterkunftsmöglichkeiten der Regierungsstatthalterin zu melden», erklärt Stadtpräsident Stefan Berger auf Anfrage. Dank dem im Rahmen der Unterbringung von Asyl Suchenden bestehenden engen Austausch zwischen den verschiedenen involvierten Stellen beim Kanton, der ORS Service AG, der Previs Vorsorge und der Stadt Burgdorf sowie der Bereitschaft der Previs, die Liegenschaften am Uferweg rasch und unkompliziert für Schutzsuchende aus der Ukraine zur Verfügung zu stellen, habe man rasch handeln können, so Berger. «Für den Einsatz und den unkomplizierten Austausch bei dieser Krisenbewältigung möchte ich allen herzlich danken. Zusätzlich hat die Stadt eine Taskforce eingerichtet, um Fragen wie zum Beispiel die Einschulung von Kindern oder die Koordination der vielen freiwilligen Angebote zu klären. Auf der Website teilen wir zusätzlich nützliche Links, damit sich alle einfach informieren können.»
Gerti Binz