«Habe alles erlebt, was es zu erleben gibt»

  11.12.2024 Sport

Ende Juli dieses Jahres beendete Andreas Tschanz seine über 30-jährige Schiedsrichterkarriere. Die Nachwuchsschweizermeisterschaften in Basel stellten die letzten Meisterschaften für den Utzenstorfer in seiner Funktion als Chef des Richterwesens und Mitglied der Direktion Swimming beim Schweizerischen Schwimmverband Swiss Aquatics dar. Damit verlor der Verband eine prägende Persönlichkeit des nationalen Schwimmsports. Auch einige Monate nach dem Rücktritt habe er noch Mühe damit, loszulassen. «Dabei war mir bewusst, dass es nach insgesamt fast 50 Jahren im Schwimmsport nicht einfach sein würde. Schliesslich steckte ich stets enorm viel Herzblut in den Schwimmsport», erzählt Andreas Tschanz. Im Gespräch mit der Zeitung «D’REGION» blickt der 69-Jährige nochmals auf seine beeindruckende Karriere zurück und gibt gleichzeitig einen Ausblick auf die künftigen Herausforderungen für den nationalen Schwimmsport. Ganz vom Bassinrand weg bringe man ihn aber nicht, so viel sei bereits verraten. Bei Trainerausbildungen im Sportzentrum Magglingen sowie überall, wo eine Nachfrage besteht, gibt der langjährige Schiedsrichter sein Wissen und seine Erfahrung auch in Zukunft weiter.

Vom Schulsport zur Funktionärs­karriere
«Da muss ich etwas ausholen», schmunzelt Andreas Tschanz auf die Frage, wie er zum Schwimmsport und anschliessend zu seiner über drei Jahrzehnte dauernden Funktionärskarriere gekommen sei. Über den Schulsport in Utzenstorf sei er erstmals mit dem Schwimmsport in Kontakt gekommen. Dieser habe sofort eine Faszination auf ihn ausgeübt. «Mit 16 Jahren absolvierte ich dann das Brevet zum Lebensretter. Im Anschluss wurde ich Mitglied des Schwimmclubs Eichholz-Gerlafingen», erzählt er. Schritt für Schritt sei er in die verschiedenen Funktionärsposten hineingewachsen. «Irgendwann kam dann die Trainer-Ausbildung hinzu. Im Rahmen dieser konnte ich mir bereits in jungem Jahren viel Wissen aneignen. Schliesslich rutschte ich relativ jung in die Schiedsrichterkommission des nationalen und später europäischen Verbandes.» Im Jahr 1991 agierte er erstmals als Head Referee bei seiner ersten Schweizermeisterschaft in Oerlikon. «Das bleibt unvergesslich. Da ein Kollege ausfiel, sprang ich für diesen ein und wurde dabei zum Glück nicht im wahrsten Sinn des Wortes, aber im übertragenen Sinn ins kalte Wasser geworfen», erinnert sich Andreas Tschanz mit einem Lächeln. Er meisterte den Sprung ins kalte Wasser souverän und erhielt positive Rückmeldungen. «Das gab mir rückblickend wohl die nötige Bestätigung, um meine Schiedsrichterkarriere mit Ambitionen verfolgen zu wollen», blickt Andreas Tschanz zurück. Ein richtiger Entscheid. Der Utzenstorfer sollte daraufhin als Schiedsrichter an zahlreichen Europa- und Weltmeisterschaften arbitrieren. Gleich dreimal krönte er seine Tätigkeit als Schiedsrichter mit der Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in Atlanta 1996, in Athen 2004 und schliesslich in Peking 2008. «Die erste Teilnahme an der Olympiade in Atlanta war surreal. Diejenige in Athen konnte ich schon eher geniessen und die letzte Teilnahme im Jahr 2008 war emotional unglaublich.» Denn im Vorfeld der Spiele, als Andreas Tschanz, Ehemann und Vater dreier erwachsener Kinder, bereits in China weilte, musste seine Frau Anna aufgrund einer Blinddarminfektion ins Spital gebracht werden. «Tausende Kilometer weit entfernt war das auf persönlicher Ebene schon herausfordernd. Doch bald einmal wusste ich, dass meine Frau dank unseres Umfelds in sicheren Händen war. Dennoch ist die Erinnerung an die Spiele in Peking immer auch mit einem persönlichen, emotionalen Wert verknüpft», erzählt er.

Das berühmte Fingerspitzengefühl
Als Schiedsrichter sei er stets hart, aber fair gewesen. Dabei schätzte er den Kontakt mit den Athletinnen und Athleten, Trainerinnen und Trainern sowie deren Angehörigen und den weiteren Funktionärinnen und Funktionären. «Ich scheute mich nie davor, eine Entscheidung zu treffen. Es gilt jedoch, diese entsprechend zu vermitteln», so Andreas Tschanz mit Blick auf seine Schiedsrichtertätigkeit. «Kennt man das Regelwerk, gibt es nichts Leichteres, als einen Entscheid zu fällen. Als Schiedsrichter muss man sich jedoch immer bewusst sein, dass bei einem Entscheid auch immer eine Person verliert.» Daher sei die Vermittlung von Schiedsrichterentscheidungen viel schwieriger als das Treffen solcher. Dazu benötige es das berühmt-berüchtigte Fingerspitzengefühl. Dass Andreas Tschanz über dieses verfügte, verdeutlicht nicht nur seine über 30 Jahre andauernde Karriere, sondern auch eine Anekdote von einer Junioren-Europameisterschaft in Antwerpen: «Der Schwimmanzug einer jungen Schwimmerin riss unmittelbar vor dem Finale, weshalb die junge Athletin bittere Tränen weinte. Denn sie wusste, dass sie mit einem defekten Schwimmanzug nicht hätte antreten dürfen. Als ich das mitbekam, sagte ich ihr, dass sie so schnell wie möglich den Schwimmanzug wechseln soll. Ich verschob den Start des Wettkampfs aufgrund angeblicher technischer Störungen um fünf Minuten, sodass die junge Schwimmerin trotzdem an dem Final teilnehmen konnte.» Es zeigt, dass Andreas Tschanz eben stets auch über ein grosses Herz für den Sport verfügte. «Man muss als Schiedsrichter wissen, bei welchen Fällen man knallhart agieren muss und wo der Sachverhalt eine grössere Lockerheit ermöglicht», erläutert er.

«Lieber Michael Phelps, bitte mach keinen Fehler ...»
Mit Blick auf die vielen Athletinnen und Athleten, an deren Wettkämpfen er als Schiedsrichter involviert war, gerät Andreas Tschanz ins Schwärmen. «Ich darf wirklich behaupten, dass ich im Schwimmsport alles gesehen und erlebt habe, was es zu erleben gibt», meint er demütig und mit einer Portion Stolz. So war er etwa als zuständiger Wenderichter hautnah vor Ort, als der US-Schwimmsuperstar Michael Phelps mit seinen acht Goldmedaillen in Peking im Jahr 2008 Sportgeschichte schrieb und zu einer der grössten Sportikonen der Historie wurde. «Viel näher als ich konnte man nicht dabei sein», lacht Andreas Tschanz. «Das Interesse der Medien und der Fotografen war verständlicherweise riesig. Als Wenderichter musste ich die Bahn von Michael Phelps kontrollieren. Damit ich die Fotografen nicht wütend machte, teilte ich ihnen jeweils mit, auf welcher Seite ich zum Kontrollgang schreiten würde, damit ich nicht ins Bild lief und
er trotzdem abgelichtet werden konnte.» Der grosse Medienrummel rund um den mit 28 Goldmedaillen erfolgreichsten Olympioniken aller Zeiten sorgte dafür, dass auch Andreas Tschanz als Schiedsrichter unter Druck geriet. «Im Vorfeld der Wettkämpfe dachte ich mir jeweils: ‹Bitte lieber Michael Phelps, mach keinen Fehler oder Verstoss, welchen ich ahnden muss›. Die Leute und der Verband hätten mich wohl gelyncht», so Andreas Tschanz mit einem Lachen. Michael Phelps schwamm korrekt zu seinen historischen Erfolgen. Im Gespräch mit Andreas Tschanz entsteht der Eindruck, dass er aufgrund seines Verständnisses als Schiedsrichter einen Regelverstoss geahndet hätte. «Es gelang mir auch in diesem Moment, das Drumherum auszublenden. Doch im Nachhinein ist es natürlich ein wunderschönes Gefühl, so nah dran gewesen zu sein, wenn Sportgeschichte geschrieben wurde.»

Ehrenamtliche Arbeit
Der Schwimmsport und die ausgeübten Funktionen gaben Andreas Tschanz stets sehr viel. Im Rahmen von Ausbildungen konnte er in diverse Länder reisen und durfte Leute aus verschiedenen Kulturen kennenlernen. «Dadurch konnte ich aus meinem Hobby auch viel für meine Berufstätigkeit als Verkausfleiter nehmen.» Damit spricht Andreas Tschanz einen wichtigen Punkt an. Seine Tätigkeit sowohl als Schiedsrichter wie auch als Funktionär erfolgte nebenberuflich. «Es war eine zeitintensive Leidenschaft, bei der es nicht immer einfach war, Schwimmsport, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen», blickt er zurück. Dank seiner tollen Familie und der Unterstützung durch seine Frau Anna sei ihm das zum Glück gelungen. Der langjährige Funktionär macht eine zunehmend angestrebte Professionalisierung im nationalen Schwimmsport aus. «Dabei darf nicht vergessen werden, dass die zahlreichen Funktionäre und Helferinnen und Helfer das Rückgrat dieses Breitensports bilden», warnt Andreas Tschanz. So seien im Schweizer Schwimmsport beispielsweise im Jahr 2023 an 219 in der Schweiz ausgetragenen Wettkämpfen gesamthaft 11 250 Arbeitstage an ehrenamtlicher Arbeit geleistet worden.  Daher sei die Professionalisierung mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Beim Streben nach Professionalisierung dürfe das Bewusstsein für die immense Arbeit am Bassinrand nicht verloren gehen. Es stelle sich weiter die Frage, welche Bestrebungen mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel dem Sport dienen würden und welche nicht. «Welche Fragen muss der Schwimmsport beantworten und welche nicht? Mein Anliegen ist es, dass bei den gesellschaftlichen Veränderungen, die nicht wegzudiskutieren sind, der Fokus auf den Sport selbst nicht verloren geht», hält das ehemalige Mitglied der Direktion Swimming von Swiss Aquatics fest.

Zeit, das Erlebte zu verarbeiten
Auch nach seinem Rücktritt bleibt Andreas Tschanz wie bereits erwähnt mit dem Schwimmsport verbunden. Nun verfüge er aber über mehr Zeit für Reisen mit seiner Frau, um die Welt noch weiter zu entdecken. «Durch die fantastische Karriere, die ich im Schwimmsport machen durfte, konnte ich vieles erleben. Nun ist es an der Zeit, das Erlebte auch zu verarbeiten.» Er pflege jeweils zu sagen, dass man zuerst wieder gesund vom Berg herunterkommen müsse, um erzählen zu können, wie schön es oben gewesen sei.
Passend zu dieser Redewendung bestieg Andreas Tschanz vor wenigen Wochen zum zweiten Mal den Kilimanjaro. Der langjährige Schiedsrichter wird auch weiterhin am Bassinrand anzutreffen sein. Aber weniger, als in den vergangenen 30 Jahren.


Joel Sollberger


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